Unser Bedürfnis nach Bewegung, nach Mobilität, ist im Leben vielfältig und ständig von Veränderungen geprägt. Notburga Henke vom BUND hat in einem kurzen Text "Leben in Bewegung" ihre persönlichen Erinnerungen als kleine Mobilitätsbiographie niedergeschrieben.
Aus einem online zugänglichen Arbeitspapier der TU Dortmund „Generationsübergreifende Mobilitätsbiografien…“: „In den vergangenen Jahren hat sich in der Verkehrsforschung der mobilitätsbiografische Ansatz etabliert. Dieser untersucht die Stabilität und Veränderung des Verkehrshandelns von Personen im Kontext von deren Lebensläufen und den damit assoziierten Schlüsselereignissen, Lern- und Alterungsprozessen.“ „An der TU Dortmund wird seit 2007 in jedem Studierendenjahrgang der Raumplanung diese Befragung durchgeführt. Dabei werden wesentliche Elemente der Mobilitätsbiografie der Studierenden sowie ihrer Eltern und Großeltern erfasst.“
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Eltern und Großeltern beim Ausfüllen des Fragebogens nicht mit ihren Kindern ins Erzählen kommen. Jedenfalls hat mich dieser Text, der als Einstieg in das Thema an der Uni gedacht war, zum Nachdenken gebracht: Wie könnte ich einen persönlicheren Mobilitätslebenslauf schreiben, wo fange ich an, was war für mich wichtig, woran erinnere ich mich überhaupt und was könnte ich vielleicht noch aus Erzählungen meiner Familie erfahren? Und, es könnte interessant sein, Mobilitätslebensläufe von anderen zu lesen, um mehr darüber zu erfahren, was Mobilität für Menschen bedeutet.
Vor einigen Wochen habe ich mit Notburga, einer Kollegin vom BUND, über dieses Thema gesprochen, nachdem sie mir am Telefon ein kurzes Erlebnis aus ihrer Kindheit geschildert hat. Auf meine spontane Frage, ob sie nicht Lust hätte, dies und anderes für eine Art Mobilitäts-Lebenslauf aufzuschreiben, antwortete sie nur mit „Ja“ und tippte ihre Erinnerungen "Leben in Bewegung" gleich am nächsten Wochenende in den Computer. Vielleicht wird aus diesen ersten schönen Erinnerungen zum Thema Mobilität mit der Zeit eine kleine Reihe - Danke Notburga.
Quelle:
Generationsübergreifende Mobilitätsbiografien – Dokumentation der Datengrundlage
Eine Befragung unter Studierenden, ihren Eltern und Großeltern
von Joachim Scheiner, Kathrin Sicks und Christian Holz-Rau
Raum und Mobilität, Arbeitspapiere des Fachgebiets Verkehrswesen und Verkehrsplanung 29. Januar 2014
von Notburga Henke, BUND NRW
Die ersten 7 Jahre meines Lebens erkundete ich die erreichbare Welt im Sauerland. In der Erinnerung sehe ich noch hohe Hügel, ineinander gleitende Täler, viele Wälder, Buschlandschaften, Weiden und Getreidefelder. Wir Kinder liefen immer bergauf und bergab. In den Wäldern spielten wir Räuber und Gendarm. Was ein Gendarm war, konnte ich mir nicht richtig vorstellen. Ich wusste nur, dass ich hinter den Räubern herlaufen musste.
Im Spätsommer, wenn die Getreidefelder abgeerntet waren, spielten wir meist Verstecken. So scheint es mir in der Erinnerung. Das Getreide wurde damals noch zu Garben zusammen gebunden und als Kegel gegeneinander gestellt. Mir erschienen sie wie Burgen. Der Fänger und Sucher galt als armer Schlucker, da er mit Zählen beschäftigt war, während wir wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen über das Feld stieben - barfuß. Noch heute kann ich die Stoppeln wie kleine Nadelstiche unter meinen Füßen spüren – in der Sonne des Sommers.
Wir liefen immer kreuz und quer durch die Gegend. Manchmal nutzten wir sogar die einzige Straße. Sonntags gingen wir in die Kirche. Sie stand in einem Nachbardorf. Also liefen wir, meine ältere Schwester und ich, mit den Eltern über den nächsten Hügel ins dahinter am Hang gelegene Dorf. Ich bin mir sicher, dass wir Kindern zum Kirchgang Schuhe an den Füßen hatten.
Manchmal liefen wir auch von unserem Haus aus die Straße runter, wenn wir einen Zug kommen hörten. Es war ein himmlisches Vergnügen, genau dann auf der Brücke zu stehen, wenn die Dampflok ankam. Wie ließen uns an einer Seite der Brücke in die dunklen Schwaden einhüllen und liefen schnell auf die andere Seite, um ein weiteres Mal in diesen Genuss zu kommen. Das klappte, die Brücke war schmal und die Lokomotive fuhr bereits langsam in den Bahnhof ein.
Darauf folgte der Winter, diese wunderbare Jahresszeit. Ich kann mich nur an riesige Schneemassen erinnern. Vielleicht hatten wir Anfang der 1950er Jahre tatsächlich im Winter immer reichlich Schnee. Ich meine noch jetzt die durchnässten Strickhandschuhe und Stricksocken zu spüren. Dicke, feste Schneeknubbel klebten an den Maschen. Nun brauchten wir die Hügel nur noch zu Fuß hoch zu laufen, runter ging es prächtig mit dem Schlitten. Die Abfahrt musste aber mit besonderer Sorgfalt geplant werden. Der bäuerliche Landbesitz war oft mit Stacheldraht eingezäunt. Wegen dieser schwierigen Navigationsanforderung saß meine große Schwester immer vorne und lenkte. Eines Tages hatte sie mal wieder mit Bravour die Zäune umschifft, aber den Bach im Tal übersehen. Wieso musste er im Winter dermaßen hinterhältig zugeschneit sein. Jetzt zeigte sich die Gnade der späteren Geburt. Während der Schlitten die letzten Meter beinahe ungebremst in den Bach glitt, konnte ich einen nahenden Zaunpfahl umarmen und landete im Schnee.
Meine Eltern kamen als schlesische Vertriebene ins Sauerland. Mein Vater war ein fleißiger Polsterermeister und die Bauern nah und fern brauchten dringend neue Matratzen. Seine fertigen Werkstücke wurden auf einen großen Handkarren gebunden. Mein Vater zog dann diesen Karren an der Deichsel mit eigener Kraft - wohl mehrere Jahre.
Dann erreichte der Fortschritt auch unsere Familie. Mein Vater wurde stolzer Besitzer eines Herrenrades. Die Handkarre war nun eine Radkarre. Mit diesem Fahrrad lernte auch ich das Radfahren. Die Stange war nicht im Weg. Ich war noch sehr klein und brauchte nur mit einem Bein darunter durch. Und los ging´s, nun ja, nicht von Anfang an. Auf dem Weg vor unserem Haus lag feinkörniger Schotter. Viele Jahre hatte ich noch kleine dunkle Flecken an den Knien.
Noch im Sauerland musste ich 2 Jahre in die Volksschule gehen. Die 8 Jahrgänge waren in 2 Klassenräumen untergebracht. Das Schulgebäude stand im Nachbardorf neben der Kirche. Dieser lange Fußweg war der Kirchgangsweg. Alle schulpflichtigen Kinder unseres Dorfes machten sich dorthin auf den Weg, jedes zu seiner Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, dass uns außer am Einschulungstag jemals ein Erwachsener begleitet hatte.
Einmal, ich war im 2. Schuljahr, stand ein Möbelwagen vor dem Haus. Wir wollten umziehen - vom kleinen Dorf im Sauerland ins Ruhrgebiet nach Castrop-Rauxel. Das war meine erste Reise. Vorne im Möbelwagen bestaunte ich die Gegend.
Weiterhin ging ich zu Fuß. Der Weg zur Grundschule, damals noch Volksschule genannt, führte nun nur durch die Stadt. Am Wegrand gab es weder Weide noch Wälder. Erst der Schulweg zum Gymnasium brachte eine Veränderung. Ich durfte viele Jahre lang mit der Straßenbahn fahren. Etliche Jahre später war ich stolze Besitzerin eines eigenen Damenfahrrades. Von den festen Fahrzeiten des ÖPNV war ich nun befreit.
Irgendwann hatte mein Vater auch ein altes Auto gekauft. Bis dahin hatte er weiterhin seine gepolsterten Meisterwerke mit dem Fahrrad transportiert. Mit absoluter Sicherheit hat er dieses Auto aber nicht ein einziges Mal dazu benutzt, seine Tochter zur Schule zu fahren.
Mein erstes Auto konnte ich nach Abschluss des Studiums mein Eigen nennen. Es war ein Traumauto - rote Ente, unten in der Fahrertür leicht verbeult aber meins. Unter der vorderen Stoßstange prangte ein tolles Horn. Dieses Ereignis veränderte mein Leben. Fuhr ich während des Studiums noch mit Bus und Straßenbahn, verließ ich mich nun jahrzehntelang auf ein Auto als fahrbaren Untersatz. Ich brauchte es einfach für den Alltag. Nach und nach bekamen mein Mann und ich unsere Familie komplett. Wir wurden stolze Eltern von vier Söhnen.
Als unser zweiter Sohn zu Weihnachten sein erstes kleines Fahrrad bekam, bekam auch ich mein zweites eigenes Damenrad geschenkt. Mittlerweile war ich schon immerhin über 30. Mein kleiner Sohn mäanderte auf seinem kleinen Fahrrad mit Stützrädern über unsere ruhige Siedlungsstraße und ich mit meinem ohne Stützräder hinterher.
Seit meiner Ente hatte ich das Auto immer als naturgegebenes Mobilitätsmittel benutzt. Sprit war billig und Fahrradfahren etwas für Spießer. Übrigens gingen viele Jahre ins Land, ehe ich zufällig merkte, dass es am Bahnhof keine Bahnsteigkarte mehr gab. (Für die Jüngeren: Eine Zeitlang musste man am Fahrkartenschalter eine Karte kaufen, die einen Menschen berechtigte, ohne Fahrkarte auf den Bahnsteig zu gehen. Im Zugangsbereich zu den Bahnsteigen saß damals ein Schaffner in seinem kleinen Häuschen und lochte dann die kleine, braune, feste Bahnsteigkarte.)
Wie gesagt, die Benutzung hing nie von der zurückzulegenden Wegstrecke ab. Einige Zeit unterrichtete ich an einer Schule, die höchstens 800m entfernt war. An eiskalten Wintermorgen kratzte ich dann das Eis von den Scheiben und orgelte einige Zeit, bis das Autochen ansprang. Zeitweise waren sogar die Scheiben innen von einer dünnen Eisschicht überzogen. Mit einem Eiskratzer schob ich diese kalte Pracht zusammen. Feine Eisspäne rieselten auf Sitz und Armaturenbrett. Auf den ersten gefahrenen Metern musste ich mehrmals anhalten, um die beschlagenen Scheiben klar zu wischen. Nie keimte auch nur der kleinste Zweifel am Autofahren auf.
Meine Kinder habe ich nie mit dem Auto zur Schule gebracht. Die Grundschule war fußläufig zu erreiche. Zur weiterführenden Schule wurde dann das Fahrrad genommen.
Selbstverständlich "machten" alle ihre Führerscheine. Grundausstattung waren Motorrad-, Auto- und Hängerführerschein. Zur Uni fuhren sie aber dennoch mit dem Zug - hauptsächlich. Ausnahmen war so zwingende Begründungen: "Heute habe ich nur zwei Stunden. Das lohnt sich nicht. Kann ich das Auto haben?" Oder "Die S-Bahn von Dortmund-Dorstfeld zur Uni ist um diese Zeit immer rappelvoll. Die schaffen es nicht, noch einen Waggon dranzuhängen. Ich habe keine Lust, mich in den vollen Zug zu quetschen."
Spitzenzugnutzer war unser Zweitgeborener. Er wollte in Osnabrück studieren, seine Freundin studierte aber in Münster und wohnte noch bei ihren Eltern in Dortmund. Also kam für unser Söhnchen keine Studentenbude in Osnabrück in Frage. Und so stiefelte er jeden Morgen gegen 6 Uhr aus dem Haus, fuhr mit Fahrrad zum Bahnhof und hetzte auf den Bahnsteig. Gegen 22.00 Uhr war er wieder zu Hause. Für die letzten beiden Jahre hatten wir Eltern ein Einsehen. Wir kauften einen kleinen Renault Twingo. Die Monatskarte nach Osnabrück wurde uns ja auch nicht geschenkt. Dieser Kleinwagen, am Ende des D-Mark-Zeitalters gekauft, fährt noch heute. Unser Drittgeborener will ihn bis zum gnädigen Ende nutzen. Als Diplom-Ingenieur in einer Hütte hat er es sich zum Ziel gesetzt, mit dem kleinsten und ältesten Auto auf den Firmenparkplatz zu fahren. Hat er wohl bald geschafft. Allerdings hat er es sich in der Zwischenzeit angewöhnt, mit dem Fahrrad zur Firma zu fahren. Das Auto erblickt nur das Tageslicht, wenn unser Herr Sohn seine Golfschläger für den Afterwork-Sport transportieren muss - oder wie auch immer man das heute nennt.
Bei dessen Umzug von seinem Elternhaus nach Dillenburg in Hessen zeigte sich übrigens die Gnade meiner frühen Geburt. Mit meinem alten Führerschein Klasse 3 kann ich noch Lkw bis 7,5 t fahren. Bis dahin hatte ich noch nie die Gelegenheit gehabt, diese Berechtigung zu nutzen. Wenigstens einmal in meinem Leben .... Wie es unser Sohn geschafft hat, für seinen Umzug einen LKW zu benötigen, ist mir immer noch schleierhaft. Er war aber gut gefüllt.
Meine Autoabhängigkeit ist seit etlichen Jahren langsam aber sicher auf ein Minimum zusammen geschmolzen. Gerne gehe ich heute auch längere Strecken zu Fuß. Mit meinem Fahrrad kann ich in einem Radius von 15 km die meisten Ziele erreichen. Für den Transport habe ich an der Lenkstange und auf dem Gepäckträger je ein Transportkörbchen. Für den ÖPNV habe ich eine Monatsfahrkarte und bei längeren Strecken hilft mir die Bahncard 50.
Aber ganz vom Auto verabschieden kann ich mich noch nicht. Für der BUND muss ich immer wieder Pavillon, Kartons mit Infomaterial und Klapptische transportieren.
Altbacken und langweilig wird meine Mobilität bisher nicht. Ich hatte am eigenen Leibe gemerkt, dass mit den Jahrzehnten die allgemeine Muskelkraft nachlässt. Als wir im Frühjahr unsere kleine Segelyacht wieder nach dem Zuwasserlassen durch eine große Schleuse in Bremerhaven bringen mussten, rutschte ich beim Hochstemmen auf die Reling mit einem Bein ins Wasser - beinahe komplett. Eigenhändig und -füßig gelangen mir Rettung und Aufstieg. Dieser sportliche Einsatz war mir dermaßen peinlich, dass ich mich sofort, als wir wieder in Castrop-Rauxel angekommen waren, im Sportstudio angemeldet hatte.
Nun bin ich eifrige Sportlerin - wer hätte das gedacht. Das Leben ist und bleibt spannend. Ich bin neugierig, wie ich mich in all den zukünftigen Jahren vom Fleck bewegen werde. Im kommenden Frühjahr werde ich übrigens mal wieder in den Alpen Skilaufen.